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„Ist das Liebe oder kann der weg“ 

anke Maiberg


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EINS

„Er geht zur Maniküre“, sagte ich und nippte an meinem Sekt.

Katja verdrehte die Augen und schlug sich mit gespielter Verzweiflung eine Hand vor die Stirn – aber dann schrieb sie den Punkt beflissen auf. Hierzu nutzte sie meine Cosmopolitan. Genauer gesagt, die große Bilderstrecke mit den sexyesten Bond-Szenen aller Zeiten. Noch genauer: ein Foto von Daniel Craig, wie er in Casino Royal nur mit einer himmelblauen Badehose bekleidet aus dem Atlantik steigt. „Da muss man ja damit rechnen, von Frauen zum Objekt gemacht zu werden“, hatte Katja gefeixt und Bonds nackte Brust zum Notizzettel umfunktioniert. Mit blauem Kuli entstand darauf eine Liste: Außer dem gerade hinzugefügten „Maniküre“ hatte sie schon „untreu“, „selbstverliebt“, „rücksichtslos“ und „kein Balkon“ notiert. Das alles galt natürlich nicht James Bond – was wussten denn wir, ob 007 einen Balkon hat? Nein. Es ging um meinen Freund.

Thema des Abends war, dass Stephan mich im Grunde gar nicht verdient hatte. Um das zu untermauern, erstellten wir diese Sammlung seiner fiesesten Eigenschaften und Negativpunkte, und Katja brainstormte wie eine Weltmeisterin. Gerade platzierte sie mit breiten Buchstaben „triebgesteuert“ über dem Saum der Badehose. Der Plan war, dass ich die Liste später an meinen Kühlschrank pappte. Wie die Moppelpo-Fotos bei einer Diät, die auch davon abhalten sollen, wieder schwach zu werden. Oder wir würden sie nachher verbrennen. Zusammen mit der Voodoo-Puppe, die Sandra gerade bastelte.

Sandra war meine zweitbeste Freundin nach Katja. Rang zwei deshalb, weil sie mich in ihrem Beruf als Zahnprophylaxe-Assistentin einmal im Quartal über die Schmerzgrenze trieb. Ansonsten hatte ich sie beide gleich lieb. Und Sandra gab ebenfalls alles beim Stephan-Exorzieren. Sie hatte alte Sportsocken so ineinandergeknüllt und mithilfe von Haargummis in Form gebracht, dass ein Püppchen mit Armen, Beinen und Kopf entstanden war. Statt Augen hatte sie ihm mit Edding zwei Kreuze gemalt.

Als ich Stephans Maniküre erwähnt hatte, war sie aufgesprungen. Jetzt kehrte sie mit einer Packung künstlicher Fingernägel in den Händen aus dem Badezimmer zurück. „Die benutzt du doch nicht mehr, oder?“, fragte sie. Nein. Wie Sandra wusste, lagen die Dinger schon seit Ewigkeiten im Schrank. Ich hatte sie mal im Kaufrausch in einer Drogerie erstanden und eine Zeit lang davon geträumt, auch mal Nägel in Mandel- statt in Zwiebackform zu haben. Aber jedes Mal, wenn ich die Packung dann zu Hause in die Hände genommen hatte, war ich mir albern vorgekommen und hatte sie wieder fortgeräumt. Im Grunde hatte ich sie im Hinterkopf schon fürs nächste weihnachtliche Schrottwichteln vorgesehen. Da konnte ich sie genauso gut auch fürs Voodoopuppe-Basteln hergeben.

Sandra riss die Packung auf und drapierte die Nägel um die Enden der Frottee-Ärmchen. „Holt mal einer Sekundenkleber?“, forderte sie dann, als sie sich die richtigen Positionen überlegt hatte.

Katja fühlte sich nicht angesprochen. Sie hatte damit begonnen, Daniel Craig ein kompliziertes Meerjungfrauen-Tattoo auf den Bizeps zu malen und konnte gerade nicht aufstehen. Ich brummte. Täuschte ich mich, oder kippte hier gerade die Stimmung? Als sie bei mir angekommen waren, hatten die Mädels noch laut geschimpft und Stephans Fehltritt zum Anlass wütender „Männer sind doch alle Schweine!“-Schimpftiraden genommen. Aber allmählich schien der Kriegsrat zu einer heiteren Mal- und Bastelstunde zu verkommen. Na ja. Solange mich keiner bat, einen Roibuschtee zu kochen … Ich stand auf, kramte den Kleber aus der Küchenschublade und sah dann zu, wie Sandra die Sockenpuppe pimpte. „Lässt er sie nur feilen, oder kriegt er auch Lack?“, fragte sie nach.

„Lack ist ihm zu auffällig“, verriet ich, was Stephan mir eigentlich im Vertrauen gesagt hatte. Aber Vertrauen konnten wir ja wohl knicken. „Er schwört auf pflegendes Nagelöl und anschließend ein Politur-Finish.“

Katja machte Würgegeräusche und setzte auf der Liste zwei dicke Ausrufezeichen hinter „Maniküre“.

Als Sandra fertig war, hielt sie die Puppe auf Armlänge von sich entfernt und betrachtete sie kritisch. „So sieht’s jetzt aber irgendwie albern aus“, stellte sie fest.

„Ich glaube, Voodoopuppen haben normalerweise keine Fingernägel“, pflichtete Katja ihr bei.

„Ich glaube, Voodoopuppen haben normalerweise auch nicht ‚35-38‘ auf dem Bauch stehen“, sagte ich schulterzuckend. Die Leistengegend der Puppe hatte offenbar den Teil meiner Sportsocken abbekommen, bei dem die Schuhgröße in den Stoff eingewebt war. Aber solange wir kein Youtube-Video von unserem kleinen Exorzismus ins Netz stellten, würde uns schon keine Abmahnung für Pfusch am kultischen Zauberzubehör ins Haus flattern.

Sandra fing an zu kichern. „Stellt euch mal vor, Stephan hätte wirklich so ein Tattoo! Um die Damenwelt auf die Länge seines Gemächts hinzuweisen!“

Auch Katja prustete los. „Genau! Wär das nicht praktisch? Wir sollten ihm mal einen Tipp geben. ‚Du, Stephan, falls du noch eine Methode brauchst, um die Frauen für dich zu gewinnen …“

„Das scheint er aber nicht mehr nötig zu haben“, knurrte ich. Ich spürte, wie sich meine Muskeln unwillkürlich verkrampften, als ich an die Szene vom Abend zuvor zurückdachte.

Da hatte Stephan es offenbar ganz ohne die Hilfe von Tattoos geschafft, den Fokus einer Frau auf sein bestes Teil zu lenken. Und fokussiert war sie gewesen, die Frau mit der roten Mähne und den Schlauchbootlippen. Was die da auf Stephans Bett abgezogen hatte, erforderte Konzentration und außerdem eine Beweglichkeit, die nur auf falsch verschraubten Gelenken oder extremer Disziplin beim Yoga beruhen konnte. Was mir beides fehlte. Ich verzichtete beim Yoga nicht nur regelmäßig darauf, mich richtig in den Dehnungsschmerz reinzulehnen … ich verzichtete auch oft genug aufs Yoga als solches. So wie gestern, als ich den Kurs geschwänzt hatte. Um stattdessen zu Stephan zu gehen. Und ihn beim Fremdgehen zu erwischen.

„Hase, mach da keine große Sache draus!“, hatte er rausgepresst, als er mich nach Luft schnappend in der Tür hatte stehen sehen. Unter dem Spagat der Schlampe eingeklemmt, hatte er es noch nicht mal geschafft, mir auf die Straße hinterherzulaufen.

Ich seufzte. Katja hielt mir einen Nougatriegel hin. Donnerstags, wenn die Mädels zum Seriengucken zu mir kamen, gönnten wir uns auch immer gleich alles, was uns in den Werbepausen angepriesen wurde. Also, nicht die Kleinwagen. Aber die Süßigkeiten und den Sekt. Heute hatten wir, Festplattenrekorder sei Dank, das Fernsehen zwar aufgeschoben, weil wir uns erst mal um meinen Liebeskummer kümmern mussten. Das Naschzeug gab es aber trotzdem schon mal. Während ich an dem Keksteil meines Riegels herumknabberte, stellte ich fest, dass wir wirklich leichte Beute für die Marketingleute waren. Fehlte nur noch, dass wir uns alle pastellige Unterwäsche zulegten und einander kichernd Enthaarungsprodukte zuwarfen.

Hmm. Enthaarungscreme. Meine Stimmung hellte sich auf.

„Ich weiß, was ich mache!“, rief ich und schnipste mit den Fingern. „Ich habe doch seinen Schlüssel …“

„Ja, da habe ich auch schon dran gedacht“, unterbrach mich Katja. „Also, du könntest den Schlüssel in ein Paket mit Hundekacke stopfen und Stephan aufs Kopfkissen legen!“

Sandra und ich verzogen vor Ekel den Mund.

Katja zuckte mit den Schultern. „Und was wolltest du sagen?“, fragte sie mit dem beleidigten Tonfall des verkannten Genies.

„Also, an Rache dachte ich auch“, sagte ich gedehnt. Die beiden nickten zustimmend. Katja gab mir den ‚Gefällt mir‘-Daumen. Ich lehnte mich vor und senkte konspirativ die Stimme. „Stephan findet doch immer, dass er aussieht wie McDreamy.“ Sandra guckte ungläubig.

Klar, den zärtlichen Blick von Patrick Dempsey in Grey’s Anatomy hatte er nicht. Er schaute einen eher so adlermäßig-durchdringend an. „Wegen seiner Haare“, erklärte ich. Und das musste man Stephan schon lassen, die dunklen Haare waren fast wie bei McDreamy. Dicht, glänzend und sanft gewellt.

„Na, Komplexe hat Stephan jedenfalls keine.“ Katja verdrehte die Augen. Stephan und sie waren Kollegen, und sie fand ihn nicht im positiven Sinne selbstbewusst, sondern eher großkotzig – was sie auch gerade in der Liste ergänzte. Und „intrigant“. Auf ihrer Stirn bildete sich vor Wut eine Furche.

„Glitter Angel?“, fragte ich verstehend nach und traf damit ins Schwarze.

„Der hinterhältige Mistkerl!“, giftete Katja. „Das Mandat stand so was von mir zu! Und dass du die ganze Zeit zu dem gehalten hast, verstehe ich sowieso nicht! Ich meine, dich wollte er auf die Premiere doch auch nicht mitnehmen!“

„Er hat doch gar keine zweite Karte. Er muss da doch nur hin, um den Mandanten zu bespaßen“, rechtfertigte ich Stephan reflexmäßig. Das Thema Premiere war bei Katja ein Dauerbrenner.

Es ging um Folgendes: Katja fühlte sich von Stephan verraten, weil er sich ein Mandat geangelt hatte, auf das sie total scharf gewesen war. Es ging um einen Filmfonds. Filmfonds, das waren Konstrukte, mit denen deutsche Gutverdiener ihr Geld in Hollywood-Produktionen anlegten. Normalerweise keine glamouröse Sache, eher das Gegenteil, wie das halt bei Steuerrecht so ist. Wer bei der Kanzlei Blöcher und Schramm einen Filmfonds betreut, der flaniert nicht mit dem Headset durch ein Filmstudio, sondern korrespondiert mit dem Finanzamt und trifft allenfalls die völlig unspektakulären deutschen Zahnärzte, die in die Fonds zu investieren pflegen. Die Filmstars bekommt ein Anwalt nicht zu Gesicht. - Außer bei Glitter Angel. Für diesen Film hatte der Hauptinvestor, ein Industrieller mit dem denkbar glitterfreien Namen Ulf Herkenrath, einen derart großen Batzen angelegt, dass die Kanzlei Karten für die Europapremiere erhalten hatte. Also, der den Fonds betreuende Anwalt. Also: Stephan.

Katja würde vor Neid noch ein Magengeschwür bekommen, befürchtete ich. Ihre Idee mit der Hundekacke auf dem Kopfkissen entsprang wahrscheinlich neben ihrer Loyalität mir gegenüber nicht zuletzt auch der Tatsache, dass sie Stephan statt der schönen Hauptdarstellerin Sarah Norton von ganzem Herzen die Pest an den Hals wünschte. Und sich selbst in die starken Arme der männlichen Hauptrolle Chris Fletcher.

Katjas Gehetze hatte ich immer ein bisschen ungerecht gefunden, denn Stephan freute sich noch nicht mal auf den Termin. Er hatte mir erklärt, dass die einzigen Perlen in seiner Nähe die Schweißperlen auf der Stirn von Ulf Herkenrath sein würden. Die Stars tummelten sich bei solchen Events höchstens abgeschirmt im VIP-Bereich, und Ulf Herkenrath müsste ich mir so vorstellen wie die Typen im Flugzeug, die über die Lehne zu einem rüberquellen und einem dabei jovial ins Ohr kalauern, welche von den anwesenden Damen sie nicht von der Bettkante schubsen würden, höchstens rein. Stephan würde sich also den ganzen Empfang über hinter einem Stehtisch vor Ulf Herkenraths Körperfülle in Sicherheit zu bringen versuchen, Altherrenwitze parieren und aus Langeweile Kanapee-Servietten falten.

So hatte ich mir das jedenfalls bis jetzt vorgestellt. Allerdings zerpixelte sich dieses Bild gerade vor meinem inneren Auge und setzte sich neu zusammen. Wie war das? Dieser Herkenrath wollte jemanden ins Bett schubsen? Und Stephan, der kleine Fremdgeher, sollte sich um ihn kümmern? Na, womöglich bestand Stephans Idee von guter Mandantenbetreuung doch nicht nur darin, ihm bei der Party ein frisches Pils zapfen zu lassen. Mein Kopfkino zeigte mir nunmehr in beeindruckender HD-Qualität meinen Freund, wie er sich bei Ulf Herkenrath unterhakte, auf einen Raum voller rothaariger, schmollmündiger Premierenluder zeigte und ein paar der Damen zu sich heranwinkte …

Okay. Genug jetzt, Inga!, ermahnte ich mich. Es hatte keinen Zweck, eifersüchtig zu sein! Das einzig Gesunde war jetzt, die Beziehung hinter mir zu lassen. Jawohl. Blick streng nach vorn. Keine Gedanken mehr an Stephan. Außer, was die Vergeltung anging.

Ich schüttelte also die Gedanken an Glitter Angel ab und erklärte den anderen meine Racheidee. Also, Stephans McDreamy-Haare. Zunächst einmal schilderte ich, was er sich da allmorgendlich so alles reinfingerte, um die perfekte Welle zu erzeugen. „Der hat’s gut!“, nuschelte Sandra, die ihre hoffnungslos feinen blonden Haare resigniert als braven Bob trug, und begann, der Stephan-Puppe ein voluminöses Toupet anzukleben. Dafür verging sie sich mit der Nagelschere an meinem Luffa-Massagehandschuh, den sie flugs ebenfalls aus dem Badezimmer geholt hatte. Und da ich diesen genauso wenig benutzte wie die falschen Fingernägel, machte es mir nichts aus, dass Sandra die Luffa-Fasern jetzt als Puppenlocken recycelte.

„Jedenfalls …“, ich ließ meinen Blick verschwörerisch zwischen meinen Freundinnen hin und her wandern, „wenn man eine Portion Enthaarungscreme unter das Gel mischen würde …“

Katjas Augen leuchteten. Sie entriss Sandra die Puppe und entfernte ihr den Luffa-Skalp wieder. „Kojak!“, jubelte sie und wedelte mit dem Sockenknäuel.

Sandra war auch ganz zufrieden. „Was wohl das rothaarige Luder dazu sagt?“, freute sie sich. Ich ließ mir nicht anmerken, dass mir das einen Stich versetzte. Ging Sandra etwa davon aus, dass Stephan die wieder sah? War die womöglich mehr als nur ein One-Night-Stand gewesen? „Vielleicht liebt sie Stephan wegen seines Charakters?“, maunzte ich.

Katja tippte auf die Liste, die noch immer auf ihrem Schoß lag. „Herzchen, ich fürchte, so blöd bist nur du.“

„Bin schon kuriert“, erklärte ich tapfer und nahm einen großen Schluck Sekt. Wurde Zeit, dass ich mir härtere Sachen ins Regal stellte. Kann man Aperol auch pur trinken?

„Brav.“ Sandra betrachtete die Sache damit als abgehakt. Sie holte sich die Voodoo-Puppe zurück, beflockte den Kopf mit neuen Locken und griff anschließend nach der Fernbedienung. Die nahm ich ihr aber weg und zeigte auf Voodoo-Stephan. „Wir wollten den doch noch anzünden!“

Sandra sah die Puppe auf ihrem Schoss zärtlich an. „Das gibt giftige Dämpfe“, erklärte sie, „wegen des ganzen Klebstoffs. Verbrennt doch den Bond.“

„Nix gibt’s!“, wehrte Katja den Vorschlag ab. Schützend legte sie eine Hand über die Zeitschrift. Das Meerjungfrauen-Tattoo war wirklich gut geworden. Trotzig wie zwei Kindergartenkinder, denen man ihr Spielzeug fortnehmen will, blickten die beiden mich an. Ich lenkte ein und versprach, dass jeder seinen Mann nachher mit nach Hause nehmen durfte.

Mit mutigen, ausgefallenen und möglicherweise leicht kriminellen Racheideen ist es meistens so, dass sie einem am nächsten Morgen albern vorkommen. Oder einen der Mut verlässt. Oder beides.

Beste Freundinnen, die den Freund nicht leiden können und auf eine mutige, ausgefallene und mindestens leicht kriminelle Verstümmelungsaktion schon lange gewartet haben, sorgen für diesen Fall vor. Zwar mussten Katja und Sandra beide am Freitag arbeiten und konnten mich daher nicht persönlich begleiten – aber schon zum Frühstück bekam ich Anfeuerungsgesänge („Mach ihm die Haare schön, mach ihm die Haare schön, mach ihm, mach ihm, mach ihm die Haare schön!“) und wohlüberlegte Ratschläge („Denk an Gummihandschuhe!“) aufs Handy.

„Ach, ich weiß nicht“, zauderte ich, als Katja mir am Telefon einzuschärfen versuchte, die Handschuhe nicht nur beim Enthaarungsmittel-Panschen, sondern auch schon beim Betreten der Wohnung zu tragen. Als Nächstes würde sie mir zu einer Strumpfmaske raten! Da fiel mir etwas auf. „So ein Quatsch. Ich bin Stephans Freundin! Ich kann Fingerabdrücke hinterlassen, so viele ich will!“

„Die Exfreundin“, korrigierte Katja.

Wie oberlehrerhaft! Ich seufzte vernehmlich. Katja entschied sich, mich misszuverstehen.

„Du bist doch die Exfreundin, oder?“, hakte sie nach. „Du hast doch wohl nicht entschieden, dem Schwein zu verzeihen?“

„Natürlich nicht!“, versicherte ich ihr sofort und verschwieg, dass mein Entschluss ein klein wenig zu wanken begonnen hatte. Vielleicht, hatte ich beim Duschen überlegt, schämte Stephan sich ja furchtbar und traute sich nur nicht, mich anzurufen? Was, wenn in meiner Abwesenheit der Bote vom Blumenladen mit einem Riesenbouquet Rosen vor der Tür stand? Wenn ich ehrlich sein sollte, ich war überhaupt nicht in Rächerlaune, sondern in Stimmung, Liebesbeteuerungen entgegenzunehmen. „Verzeih mir, Mausi, es war der größte Fehler meines Lebens, und ich werde nie eine andere lieben als dich …“, oder so etwas in der Art. Und danach ab zum Kuscheln und langes, reuiges Rückenkraulen. Langsam übergehend in wohligen Sex, bei dem ich mich ohne schlechtes Gewissen einfach mal träge ausstreckte und genoss, wie Stephan mir mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln seine Liebe bewies. Er konnte, wenn er wollte, sehr schöne Dinge mit seinen Händen anstellen. Und anderen Körperteilen. Wenn er sich mir ausgiebig widmete, konnte es mitunter passieren, dass ich mich regelrecht vergaß. Die Leute über mir hatten mich nach so einer Nacht einmal auf ein merkwürdiges Quieken aus meiner Wohnung hingewiesen und gefragt, ob ich neuerdings Meerschweinchen hätte. Oh ja, die Meerschweinchen-Moves. Von denen wollte ich mich wirklich nicht trennen.

Katja war mir auf die Schliche gekommen. „Du wartest doch nicht etwa darauf, dass er anruft, oder?“, bohrte sie. „Inga! Denk an Catwoman! Und Alice Schwarzer!“

„Alice Schwarzer im Catsuit motiviert mich nicht“, maulte ich.

„Sollte sie aber. Oder findest du es emanzipiert, dich betrügen zu lassen?“

Ach, Mann …

Nicht kochen können. Nicht gut singen. Notfalls auch nicht gut Auto fahren – alles kein Problem. Aber nicht emanzipiert sein, das wollte ich nicht über mich sagen lassen. Um Viertel nach zehn stand Catwoman alias Inga Hering also in der Choriner Straße, schloss die Haustür auf und stapfte entschlossen die Stufen zu Stephans Wohnung hinauf.

Stephan wohnte teuer. Das ahnte man an der Ausstattung des Hauses mit Tiefgarage und Video-Gegensprechanlage und natürlich an der guten Lage mitten in Prenzlauer Berg. Sehen konnte man’s aber nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man ein Architekturbanause war und in kahlen, ungemütlichen Räumen nicht den Ausdruck besonderer Lifestylekunst erkannte. Die Wände seiner Wohnung waren aus Waschbeton und der Fußboden aus einer Art Turnhallen-Linoleum, und Innenwände hatte diese Wohnung auch nicht, außer bei Bedarf Schiebetüren rund ums Klo. Wirklich. Man konnte in dieser Wohnung duschen und dabei dem anderen beim Kochen zugucken oder beim Pieseln aus den Panoramafenstern gucken und den Leuten im Hinterhaus zuwinken. Überaus loftig. Wie Flashdance für Reiche, hatte ich immer gefunden. Und nicht zum ersten Mal überkam mich die Lust, meinen MP3-Player einzudocken und eine Runde wie Jennifer Beals im Film wild durch den Raum zu hopsen. – Hm. Heute letzte Gelegenheit, stellte ich fest. Warum eigentlich nicht? Stephan war bei der Arbeit, die Putzfrau kam nur dienstags, und die Rothaarige würde ja wohl noch keinen Schlüssel haben. Ich betrachtete mein Exemplar. Er baumelte an einem Miniatur-Alfa Romeo-Lenkrad. Als er ihn mir gegeben hatte, hatte Stephan ein ganz schönes Tamtam gemacht. „Vertrauen ist die Grundlage jeder Beziehung. Ich vertraue dir. Und als Beweis vertraue ich dir meinen Schlüssel an.“ Bla, bla, bla. Nachträglich musste ich Katja Recht geben, die schon damals den zeitlichen Zusammenhang mit seiner einwöchigen Geschäftsreise suspekt gefunden hatte. Natürlich hatte ich mich erboten, in der Zeit die Installation seines Surroundsystems zu überwachen. Wer weiß, vielleicht hatte die Rothaarige auch schon einen Job und damit einen Schlüssel übertragen bekommen. Spiegel über dem Bett montieren oder so. Vorsichtshalber sicherte ich die Wohnungstür mit der kleinen Vorlegekette.

Während ich Stephans Rechner hochfuhr, verdunkelte ich die Fenster und machte mich auf die Suche nach passender Kleidung. Kein Flashdance ohne Stulpen! Bei Stephans Sportsachen fand ich allerdings nur Basketballshorts und Thermorückenpflaster. Aber er hatte gleich mehrere schwarze Strickpullis. Wunderbar! Allein schon wegen der Sache mit dem Schlüssel entschied ich mich für den teuren Kaschmirpulli aus London und schnitt die Ärmel ab. Dann zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus. Mann, war das hier fußkalt! Und das im Spätsommer! Noch ein Grund mehr für die Stulpen. Ich beguckte mich im Spiegel und fand, dass ich umwerfend aussah. Klar, Jennifer Beals war dunkelhaarig und ich blond, aber mit etwas Kopfüber-Haare-Zerstrubbeln brachte ich es immerhin auf das nötige Volumen. Das war in Achtzigerjahrefilmen schließlich das A und O. Auf Youtube schaute ich mir zu Lehrzwecken noch mal ein paar Originalszenen an. Dann drehte ich die Lautstärke hoch, zog den Startbutton nach links und tanzte los.

Es machte einen Heidenspaß. What a feeling! (Ich sang natürlich auch mit.) Ein oder zwei Beals’sche Sprünge ließ ich lieber weg, ich wollte schließlich nicht mit gerissenen Bändern und gebrochenen Wirbeln aus der Wohnung robben müssen. Aber was Ausdruck und Leidenschaft anging, gab ich alles. Das Surroundsystem auch. Bis zur Erschöpfung wirbelte ich, trippelte, sprang, rotierte (und schwitzte) wie die im Film, bis ich fand, dass die Jury mich auch in die Akademie aufgenommen hätte. Schnaufend nahm ich mir dann ein Glas Wasser und ließ mir von Stephans stahlgebürstetem Riesenkühlschrank ein paar Eiswürfel hineinwerfen. Endorphine, stellte ich dabei fest, machten ausgesprochen emanzipiert. Ich hatte keinerlei Skrupel mehr, die Racheaktion durchzuführen. Mit dem Geschirrtuch wischte ich mir gründlich den Schweiß ab und hängte es danach mit einem wohligen Ekel wieder an seinen Platz. Ich war bereit zum Giftmischen.

Es funktionierte hervorragend. Ich spülte gut die Hälfte von Stephans Stylingcreme in den Abfluss und verquirlte den Rest mit der Enthaarungscreme, die ich auf dem Hinweg noch schnell in der Drogerie besorgt hatte. Stephans Milchschaumschläger hatte mit der Konsistenz zunächst etwas zu kämpfen, schlug sich aber tapfer durch und produzierte eine hervorragende Emulsion. Sie roch zwar etwas ungewöhnlich, aber das würde Stephan kaum merken, wenn nach dem Duschen Schwaden von Duschgel-, Aftershave-, Deo- und Herrenduft durch die Wohnung waberten.

Ich räumte alles schön auf, fuhr den Rechner runter, packte die verschwitzte Unterwäsche samt Stulpen in meine Umhängetasche und zog Jeans und T-Shirt wieder an. Ich war allerbester Laune, fühlte mich sexy, vital und vollkommen frei von Liebeskummer. Lässig zog ich die Tür hinter mir zu, warf den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten und radelte heim. Jammerschade, dass heute Freitag war. Selbst wenn Stephan schon morgen die ersten Haare ausfielen, würde es bis Montag dauern, bis Katja ihn im Büro sehen und mir über den Erfolg meiner Enthaarungsaktion berichten konnte. Ich konnte es kaum erwarten!

Zu Hause duschte ich. Danach jagte ich eine Packung Tiefkühlgemüse durch die Mikrowelle, inspizierte den Akkustand meines Handys und checkte meine E-Mails. Ebay bot mir an, nächstes Wochenende ohne Angebotsgebühren Auktionen einzustellen, ein Versandhaus versprach, noch zehn Tage auf Portokosten zu verzichten, ein Onlinereisebüro schickte einen Gutscheincode und eine Zeitung wollte, dass ich an einer Umfrage teilnehme. Sonst nix - was mich irgendwie unzufrieden machte.

Ich fühlte mich rastlos. Süßigkeiten halfen da meistens, aber die hatten Katja, Sandra und ich alle aufgefuttert. Ich surfte herum. Auf News Online gab es nicht Neues. Außer, dass Sarah Norton zugab, bei den Dreharbeiten zu Glitter Angel etwas mit Chris Fletcher angefangen zu haben. Ätsch! Die jedenfalls würde sich nicht von Stephan angraben lassen. Aber schade um Chris Fletcher. Um ein paar schöne Gedanken zu generieren, googelte ich „007 Badehose“ und bekam gleich dutzendweise das Foto von Daniel Craig auf den Schirm, das Katja mir gestern entführt hatte. Aber auch das von Borat im Ganzkörpertanga. Gruselig, wer stellt den so was unter dem Stichwort 007 ins Netz? Schnell schloss ich den Browser. Mein Desktophintergrund poppte auf. Ein Foto von Stephan. Beim Segeln, mit bronzefarbener Haut und nautisch konzentriertem Blick in die Ferne … rasch klickte ich auf das Textverarbeitungsprogramm.

Ich konnte ja auch meinem Job nachgehen, wie die meisten Menschen um diese Uhrzeit. Als Freiberuflerin arbeitete ich von zu Hause aus, was mir mitunter Probleme mit der Disziplin bereitete. Es gab so viel in meinem Leben, was mich von der Arbeit ablenken konnte … Aber in diesem Fall half sie mir vielleicht umgekehrt mal, mich von meinem Leben abzulenken. Ich öffnete die Datei meines aktuellen Werkes.

Mein Beruf war es, Betriebsanleitungen zu übersetzen. Zu Beginn eines Auftrags ging ich in die Agentur und holte mir den Text und, wenn das jeweilige Gerät klein genug war, ein Beispielexemplar. Bei Pürierstäben ging das gut und bei Brotschneidemaschinen; beim Aufsitzrasenmäher neulich hatte ich passen müssen (manchmal ärgerte ich mich über meine Stadtwohnung). In der Regel bekam ich aber Übersetzungsaufträge für Betriebsanleitungen technischer Anlagen, denen ich weder einen Nutzen noch einen Spaßfaktor abgewinnen konnte, und begnügte mich bei der Arbeit deshalb meist klaglos mit Prospekten und sonstigem Bildmaterial. Meine letzte Aufgabe, bevor ich mir ab Montag mindestens zwei Wochen auftragsfreien Urlaub genehmigt hatte, bestand darin, die Faltbroschüre einer Erdwärme-Heizung zu übersetzen.

Boahhrgh. Alles, was ich über eine Heizung wusste und nach meinem Geschmack auch jemals wissen musste, war dies: warm - Knauf nach rechts/kalt - Knauf nach links drehen. Und jetzt war ich dazu verdonnert, mich über todlangweilige Fachlexika zu beugen und Technikersprache (Englisch) in Technikersprache (Deutsch) zu verwandeln. Und dafür hatte ich Linguistik studiert! Ich seufzte und versuchte, meinem Sprachgefühl dadurch Ausdruck zu verleihen, dass ich gelegentlich statt wörtlich „manuelle Wärmeaktivations-Drückvorrichtung“ ein gewagtes „Heiztaste“ übersetzte. Was sehnte ich mich nach Texten, in denen an Stelle von Photovoltaik und Thermospeichern einfach mal nur Sonne und Kaminfeuer ihren Dienst taten! Deshalb verfolgte ich beruflich inzwischen auch Plan B. Wenn in den nächsten Wochen alles klappte, würden ‚lange Kolben‘ und ‚Druck auf dem Ventil‘ zwar auch in Zukunft noch gelegentlich eine Rolle bei meiner Arbeit spielen, aber in einem wesentlich kurzweiligeren Zusammenhang …

Ich ließ zu, dass meine Gedanken zu der E-Mail abglitten, mit der ich gestern den Probetext übersandt bekommen hatte, der über meine berufliche Zukunft entscheiden konnte. Sollte ich nicht doch schon mal reinlesen? Oder hielt ich mich an meinen Plan, erst ganz tapfer das Heizungswerk zu Ende zu übersetzen?

Bevor es zu einem inneren Ringkampf kam, erlöste mich das Telefon. Allerdings nicht das Handy, sondern das Festnetz, was mich ein wenig stutzig machte. Wer ruft schon heutzutage noch aufs Festnetz an? Stephan jedenfalls nicht. Aber vielleicht die Boten vom Blumenladen, um zu fragen, ob ich jetzt zu Hause sei und sie den Strauß vorbeibringen könnten?

Ich schaute aufs Telefondisplay. Nö. Es war nur die liebe Tante. ‚Die liebe Tante‘, das war meine Tante Lisbeth. Sie nannte sich selbst so. Damit rächte sie sich dafür, dass mein Vater uns Kindern beigebracht hatte, „Tante Lisbeth“ zu ihr zu sagen, statt sie einfach nur beim Vornamen zu rufen.

Ich nahm ab und meldete mich brav. „Inga Hering.“

„Hallo, hier ist die liebe Tante.“

„Hallo, Tante Lisbeth. Lange nichts von dir gehört.“

„Das muss ich auch bemängeln“, sagte sie und ließ vom Tonfall her durchblicken, dass sie zu rund neunzig Prozent im Scherz meckerte.

„Wir sind noch in dem Alter, in dem du bei mir anrufen musst. In zehn Jahren melde ich mich dann bei dir“, gab ich zurück.

„Ist das der Deal zwischen dir und deiner Mutter?“

„Das ist ein ganz allgemeingültiger Generationenvertrag“, erklärte ich. „Wenn die Kinder erwachsen sind, werden sie trotzdem erst noch jahrelang von den Alten betüddelt. Andersrum läuft’s erst dann, wenn die Eltern tatterig geworden sind oder auf die Enkelkinder aufpassen sollen.“

„Darum ruft mich nie einer an!“, stellte Tante Lisbeth fest. Sie war geistig voll beisammen und körperlich noch so, wie man das nach über sechzig Jahren ohne sportliche Betätigung halt sein kann, und sie hatte auch weder Enkel- noch überhaupt Kinder. Außer denen, die sie in der Sparkasse immer erfand, um beim Weltspartag Kuscheltiere „für die Kleinen“ abzustauben. Auf ihrem Bett tummelten sich die Stofflöwen, -frösche und -maulwürfe der vergangenen dreißig Jahre.

„Sorry“, tröstete ich halbherzig. Aber sie nahm’s wie immer gelassen. „Ich kann auch gar keine Enkelkinder gebrauchen“, erklärte sie. „Die Blagen spucken einem nur die Bluse voll. Deine Mutter kann’s aber übrigens kaum erwarten!“

Das wusste ich. Mamas Berichte, wer von meinen Klassenkameradinnen schon wieder alles ein Baby, ein süüüüßes Baby, bekommen hatte, wurden immer penetranter. Dabei war ich noch nicht mal dreißig. „Ich hab vorhin gerade mit ihr gesprochen“, fuhr Tante Lisbeth fort. „Deshalb rufe ich auch an. Sie hat mich daran erinnert, dass dein Freund Rechtsanwalt ist.“

Super. S – u – p – e – r. Jetzt hatte ich mal gerade so schön nicht an ihn gedacht … Mir entfuhr ein genervtes Stöhnen.

Tante Lisbeth deutete das falsch. „Ja, ich weiß“, sagte sie. „Mich stört es auch total, wenn Eltern Beziehungen nach dem Status des Partners beurteilen …“

„… aber Anwalt ist einfach so nützlich“, führte ich ihren Satz zu Ende. „Hattest du einen Verkehrsunfall, oder was?“

„Nein, das nicht. Jedenfalls nichts, was jemand bemerkt hätte.“

Da war es mal wieder. Bei Tante Lisbeth konnte man einfach nicht sagen, ob sie Spaß machte oder tatsächlich so abgefeimt war, Fahrerflucht zu begehen und das in nebensächlichen Randbemerkungen rauszulassen. Ich beschloss, nicht nachzufragen. Sie redete auch schon längst weiter. „Sag mal, wann warst du eigentlich das letzte Mal hier?“

„Öhm“, murmelte ich leicht schuldbewusst. Früher hatte ich sie regelmäßig besucht, aber Stephans und meine Urlaubspläne hatten eher Mittelmeer als Nordsee vorgesehen, und für einen Wochenendbesuch war es schlicht zu weit, seit ich in Berlin wohnte. „Ist schon etwas her. Aber, wie gesagt, sobald du tatterig wirst …“

„Das war kein Vorwurf“, beruhigte sie mich. „Ich meine nur, hast du von dieser ganzen Windrad-Geschichte hier bei uns überhaupt etwas mitbekommen?“

Nochmal: „Öhm.“ Und ein gedehntes: „Jaaa, doooch.“ Dabei zupfte ich vom Basilikum, das sich auf meinem Fensterbrett nach einem größeren Topf sehnte, die Blütenknospen ab. Vom Blühen soll der ja angeblich ungenießbar werden. „Energiewende und so. Viele neue Windräder …“, eierte ich.

„Der Windpark in Freesbüll?“, fragte sie ungeduldig. „Davon schon gehört?“

„Nee. Wie, ihr kriegt einen Windpark?“, wunderte ich mich. „Offshore im Wattenmeer?“

„Nee. Neben der Reithalle.“

„Das ist ja eher nah bei dir.“

„Eben. Deshalb brauche ich einen Anwalt.“

Tante Lisbeth erklärte mir, dass sie Angst hatte, gelinkt worden zu sein. Das ganze Dorf hatte in die neuen Windräder investiert, die man nun am Ortsrand hochgezogen hatte. Das war kein schöner Anblick. Sie hatte aber trotzdem einen dicken Batzen hineingesteckt, weil man ihr mit hohen Renditen gewunken hatte. Aber jetzt hatte sie im Fernsehen eine Sendung gesehen, die Windräder als „Risikoanlagen“ entlarvt hatte. Und nun hatte sie Angst um ihr Geld und die schöne Landschaft und überlegte, ob sie nicht aussteigen und gegen die Bebauung vorgehen konnte.

„Soll ich mal meine Freundin Katja fragen?“, bot ich an.

„Wieso das denn?“, fragte Tante Lisbeth irritiert.

„Na, weil sie Anwältin ist.“

„Ja, und dein Freund?“

„Tante Lisbeth!“, entrüstete ich mich, „Frauen sind genauso gute Anwälte wie Männer. Ich finde dich sexistisch!“

„Pffh“, machte sie. Wenn ich doch nur Kritik so an mir abprallen lassen könnte. „Katja gehört nicht zur Familie. Ich finde, dein Freund kann ruhig mal etwas für uns tun.“ Das klang, als wären wir die Mafia. Leider musste ich die Patin enttäuschen und gestand nach einigem Zögern, dass der Anwaltsfreund passé war.

Aber Tante Lisbeth überraschte mich mal wieder. Sie war bereit, ohne weiteres Gemurre auf den Anwalt in der Familie zu verzichten. „Na, dann ist es doch gut, wenn du den los bist“, stellte sie lakonisch fest, als ich von Stephans Seitensprung berichtet hatte.

Prima, sie war auf meiner Seite. „Und er hat noch gar nicht angerufen, um mich zurückzuerobern“, maulte ich daher mit Ich-armer-Wauzi-Stimme, die anzeigen sollte, dass ich dringend Streicheleinheiten brauchte.

Denkste. „Nee, wird er auch nicht mehr“, versetzte sie nur herb.

„Das ist aber ungerecht!“, beschwerte ich mich.

Das sah Tante Lisbeth ein. Hoffnungen wollte sie mir trotzdem keine machen. Aber dafür bot sie mir eine Therapie. Oder jedenfalls einen therapeutischen Tapetenwechsel. Ich solle sie besuchen, schlug sie vor. Das würde mich auf andere Gedanken bringen. Und ich könne mir die Unterlagen für den Windpark durchsehen, um für sie die Sache mit Katja zu besprechen.

Ich musste nicht lange überlegen. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die auf Spontanbesuche mit Panik und Putzanfällen reagierte, machte meine Tante überraschenden Gästen einfach entspannt eine Dose Labskaus auf. Ich konnte ihre Einladung also ohne schlechtes Gewissen annehmen.

Kurzentschlossen simste ich Sandra, die nur zwei Straßen weiter wohnte, dass sie sich mit ihrem Ersatzschlüssel zu meiner Wohnung Milch, Butter und das Basilikum holen konnte, packte Laptop und ein paar Klamotten in meine Reisetasche und setzte mich in den nächsten Zug.